Ein „Skandal“: Warum sollte dieses AfD-Gutachten unter Verschluss bleiben?

In seiner Bewertung der AfD kommt der Verfassungsschutz offenbar ohne nachrichtendienstliche Informationen aus. Wofür braucht man dann den Geheimdienst überhaupt?
Das Bundesamt für Verfassungsschutz arbeitete jahrelang an seinem Gutachten über die AfD. Herausgekommen ist ein 1100-seitiges Dokument, das die Partei als „gesichert rechtsextremistisch“ einstuft. Der Inlandsgeheimdienst wirft ihr darin Verstöße gegen die Menschenwürde, das Demokratieprinzip und das Rechtsstaatsprinzip vor.
Bereits zuvor, als die AfD noch als „Verdachtsfall“ galt, konnte der Verfassungsschutz sie nachrichtendienstlich überwachen. Er durfte V-Leute anheuern, also Personen dafür bezahlen, Informationen aus dem Inneren der Partei zu beschaffen. Auch Observation, Bild- und Tonaufzeichnungen waren grundsätzlich möglich. Nun, da die AfD hochgestuft wurde, liegt die Hürde dafür niedriger.
Vor diesem Hintergrund hat das neue AfD-Gutachten, das am Dienstag unter anderem vom Magazin Cicero veröffentlicht wurde, viele überrascht. Denn es kommt weitestgehend ohne nachrichtendienstliche Erkenntnisse aus. Im Kapitel zur Methodik schreibt der Verfassungsschutz selbst, welche „Belege“ er heranzieht: „programmatische Schriften und Grundsatzpapiere, Publikationen, Verlautbarungen auf Internetpräsenzen und in sozialen Netzwerken sowie Aussagen im öffentlichen Raum wie z.B. Reden auf Wahlkampfveranstaltungen und Demonstrationen“.
Tatsächlich gleicht das Dokument in weiten Teilen einer Zitatesammlung. Auch einige Memes, die beispielsweise auf der Plattform X gepostet wurden, haben es in das Papier geschafft. Nur wenige Abschnitte beinhalten Informationen, die der Verfassungsschutz anderweitig beschafft haben dürfte: zum Beispiel zu Geldüberweisungen an AfD-Vorfeldorganisationen wie das Magazin Compact.
Warum wurde das Dokument trotzdem als geheim und „nur für den Dienstgebrauch“ eingestuft? Das ist zwar die niedrigste aller Geheimhaltungsstufen, doch nach außen dringen sollte es nicht. Und, ganz grundsätzlich: Braucht es für solche Erkenntnisse überhaupt einen Nachrichtendienst, wenn doch auch Journalisten und Wissenschaftler öffentliche Aussagen von Parteileuten auswerten und berichten?
Verfassungsrechtler: Bürger müssen sich eigenen Eindruck verschaffen könnenEs war Innenministerin Nancy Faeser (SPD), die sich Anfang Mai, kurz vor der Amtsübergabe an ihren Nachfolger Alexander Dobrindt (CSU), gegen eine Veröffentlichung entschieden hatte. Sie verwies darauf, dass derartige Gutachten auch in der Vergangenheit unter Verschluss geblieben seien. „Gerade eben, um Quellen zu schützen und keine Hinweise darauf zuzulassen, wie die Erkenntnisse gewonnen wurden“, sagte die SPD-Politikerin. Tatsächlich hat der Verfassungsschutz, der dem Innenministerium untersteht, es bislang so gehandhabt. Dobrindt wollte die Veröffentlichung nun prüfen lassen, doch Cicero kam dem Ministerium zuvor.
Fraglich ist allerdings, welche Quellen eigentlich geschützt werden sollten. Und warum man entsprechende Stellen nicht einfach hätte schwärzen können.
Dass das Ministerium das Dokument nicht selbst veröffentlicht hat, sei ein „Skandal“, sagt der Leipziger Verfassungsrechtler Hubertus Gersdorf der Berliner Zeitung. „In einer Demokratie haben die Bürgerinnen und Bürger das Recht, sich über solche für unser Land elementar wichtigen staatlichen Berichte einen eigenen Eindruck zu verschaffen.“ Der Bericht hätte – gegebenenfalls mit einzelnen geschwärzten Stellen – sofort in Gänze der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden müssen, meint Gersdorf.
Jetzt kann sich jeder ein Bild vom Vorgehen des Geheimdienstes machen. Während Gegner der AfD sagen, für die Bewertung der Partei genügten Aussagen in sozialen Medien, gibt es Menschen, die den Verfassungsschutz von innen kennen und im Gespräch mit dieser Zeitung feststellen: Wenn man sich sicher wäre mit der Bewertung der AfD, hätte man nicht mehr als 1000 Seiten vollgeschrieben. Das Gutachten setze auf Quantität statt Qualität.

Für die Geheimhaltung kann es aber auch andere Gründe geben. Ist ein solches Gutachten erst mal in der Welt, beginnt ein Kampf um die Deutungshoheit. Nicht nur AfD-Politiker äußern sich dann zu Details des Dokuments, zu Zitaten oder Deutungen, sondern auch Juristen und Sicherheitsexperten. Zwar hat der Verfassungsschutz zugesagt, während eines Eilverfahrens der AfD am Verwaltungsgericht in Köln die Partei nicht mehr als „gesichert rechtsextremistisch“ zu bezeichnen. Doch das Gutachten bleibt. Und damit die Debatte über die Analyse des Nachrichtendiensts.
Dabei liegt es im ureigenen Interesse eines Geheimdiensts, dass seine Arbeit nicht in aller Öffentlichkeit diskutiert wird. Im Fall des Verfassungsschutzes, einer weltweit einmaligen Einrichtung, kommt aber hinzu, dass er durch Pressemitteilungen oder Berichte seine Einschätzungen zu angeblichen Verfassungsfeinden durchaus preisgibt. So war es auch jetzt bei der AfD. Die Rede war von einem „ethnisch-abstammungsmäßigen Volksverständnis“, das nicht mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung vereinbar sei. Ein abstraktes, erklärungsbedürftiges Wort. Wie er zu seiner Bewertung kam, verriet der Nachrichtendienst jedoch nicht, erst nach und nach zitierten Medien einzelne Passagen des Dokuments.
Die Geheimniskrämerei ist aus der Logik des Verfassungsschutzes heraus also nachvollziehbar – würde seine Analyse andernfalls doch ausgiebig hinterfragt werden. Immerhin nutzt der Nachrichtendienst Begriffe wie „gesichert rechtsextremistisch“, die im Verfassungsschutzgesetz nicht einmal vorkommen und von Politikwissenschaftlern oder Juristen anders ausgelegt werden. So bezweifelt etwa der Verfassungsrechtler Volker Boehme-Neßler, dass der Begriff auf die Partei zutrifft. Außerdem könnten andere Organisationen auf die Herausgabe des AfD-Gutachtens verweisen, wenn sie die Veröffentlichung „ihrer“ Geheimdienstakten einfordern.
Jurist Rolf Gössner: Braucht es dafür einen Inlandsgeheimdienst?Auch für Rolf Gössner stellt sich die Frage, ob all die Vorwürfe gegen die AfD und mögliche Schlussfolgerungen nicht auch ohne Inlandsgeheimdienst möglich gewesen wären. Gössner ist Publizist und Bürgerrechtler, er wurde selbst jahrzehntelang vom Verfassungsschutz beobachtet. Nicht weil er etwa einer extremistischen Organisation angehört hätte, sondern wegen seiner Kontakte zu Gruppen und Medien, die der Geheimdienst als linksextremistisch einstufte. Der Jurist fordert seit langem die Abschaffung des Verfassungsschutzes – und steht nicht im Verdacht, der AfD politisch nahe zu sein.
Man könne sich allein die Reden, Publikationen und Zitate von AfD-Vertretern vergegenwärtigen, über die seit Jahren fast täglich berichtet werde. „Erinnert sei nur etwa an die ‚Remigrations‘-Drohungen“, sagt Gössner dieser Zeitung. „Schließlich ist die AfD längst als völkisch-rassistisch-ausländerfeindlich identifizierbar – mit belegbaren Bezügen zum Neonazi-Spektrum. Außerdem ist bei rechten Gewalttaten, die auch von AfD-Hetze befeuert werden, ein erschreckender Aufwärtstrend zu verzeichnen.“ Er bezweifelt deshalb, dass es „ein geheimdienstlich erstelltes amtliches Zeugnis“ brauche, um auf die Ursachen gesellschaftlicher Herausforderungen und „dieses Gefahrenpotenzial“ zu reagieren.
Rolf Gössner klagte lange erfolglos gegen seine eigene Beobachtung. Erst im Jahr 2020 entschied das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig, die Überwachung sei grundrechtswidrig gewesen. Auch erhielt Gössner auf Geheiß des Gerichts rund 2000 Seiten seiner Personalakte vom Nachrichtendienst. Allerdings war sie aus Geheimhaltungsgründen zu 80 Prozent geschwärzt – so viel Mühe hätte sich der Verfassungsschutz beim AfD-Gutachten vor einer Veröffentlichung jedenfalls nicht machen müssen.
Die Hochstufung der Partei habe zwar keine unmittelbaren rechtlichen Folgen, sagt Gössner. Sie wirke zunächst vor allem durch ihre Bekanntgabe „weit hinein in Politik, Staat und Gesellschaft, was für die Partei selbstverständlich gravierende Auswirkungen“ habe. So sehe diese sich „von staatlicher Seite öffentlich stigmatisiert und ausgegrenzt und damit in ihren Grundrechten beeinträchtigt, besonders in ihrer Parteienfreiheit und Chancengleichheit“.
All das geschehe, „ohne dass sie zuvor rechtliches Gehör erhielt, sich also vor der Veröffentlichung nicht inhaltlich zur Wehr setzen konnte, was unter rechtsstaatlichen Aspekten zumindest bedenklich erscheint“. Rolf Gössner beschränkt seine Kritik nicht nur auf Pressemitteilungen wie die zur AfD-Einstufung. Ähnlich verhalte es sich auch mit den jährlichen Verfassungsschutzberichten, in denen Einzelpersonen und Organisationen öffentlich als Extremisten beziehungsweise Verfassungsfeinde gebrandmarkt würden.
Berliner-zeitung